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In der Nähe des Anderen

In der Politik der letzten Tage und Wochen macht sich ein ungeahnter Ausgriff auf das Andere bemerkbar. Restriktionen und Hilfsmaßnahmen, von unterschiedlichen politischen Lagern veranlasst, lassen Ansätze erkennen, die im Normalzustand völlig undenkbar gewesen wären. Sie liegen tief in Handlungsterritorien, in denen man für gewöhnlich nur den politischen Feind verortet. Wir erleben sonst autoritären Staaten vorbehaltene Überwachungsmaßnahmen, Versammlungs- und Platzverbote, sowie partielle oder komplette Ausgangssperren, die von linken und liberalen Politiker*innen mitgetragen werden. Ebenso bewilligen neoliberale und konservative Entscheidungsträger*innen massive staatliche Unterstützungsmaßnahmen, um Beschäftigungsverhältnisse und Löhne von Arbeitnehmer*innen zu sichern. Überschreitungen wie diese, die Wilderei im Territorium des Anderen, wäre noch gestern in den eigenen Reihen streng geahndet worden. Und dennoch scheint die Zuhilfenahme unorthodoxer Gestaltungswerkzeuge sich bereits jetzt als politisches Stilmerkmal des Jahres 2020 zu etablieren.

Freilich lassen sich die drastischen Einschränkungen und umfangreichen Incentives vor dem Hintergrund des aktuellen Bedrohungsszenarios leicht argumentieren. Schließlich soll die seltsame Krankheitswelle, die rasch von einem abstrakten Bedrohungsszenario aus China zu einer konkreten Gefahr für den Rest der Welt heranwuchs, rasch eingedämmt werden. Und trotzdem werden Politiker*innen nicht müde, ihre Schritte als „Ausnahmemaßnahmen“ zu kennzeichnen und im selben Atemzug zu betonen, dass man diese sofort nach Beendigung der Krise wieder zurücknehmen würde. So etwa der österreichische Finanzminister Gernot Blümel, der jüngst einräumte, bald nach Abflauen der COVID-19-Welle wieder sparen zu wollen. Das ungute Bauchgefühl beruht darauf, dass die verbotenen Werkzeuge das Potential haben, das System nachhaltig zu verändern – in welche Richtung, das steht für viele noch offen. Am imaginären Horizont seiner Handlungen verspricht sich der Mainstream daher die Rückkehr in den Normalzustand, in eine Welt, in der wieder alles so ist wie vor der Krise. Unterdessen ist jedoch die Stunde jener gekommen, die bereits ungeduldig auf die Umsetzung progressiver Ideen warten, während anderen die Chance erwächst, ihre autokratischen Machtphantasien zu verwirklichen.

Pause

Doch halten wir diesen so rasch an uns vorbeilaufenden Film für einen Augenblick an. Um den aktuellen Moment auf seine Potentiale hin zu untersuchen, wollen wir das zeitgeschichtliche Standbild so betrachten, als wäre es eine in sich geschlossene Einheit, die weder die Handlung des Films verrät noch die Motivationen der Akteur*innen. Die heutigen Geschehnisse erscheinen dann als eine Reihe unerklärlicher Explosionen – den Sequenzen nicht unähnlich, mit denen Michelangelo Antonioni Zabriskie Point, seinen bekannten Film aus 1970, enden ließ. Eine rohe Gewalt lässt Gegenstand für Gegenstand zerbersten, ihre Einzelteile fliegen in Zeitlupe über die Filmleinwand. In Antonionis Film explodieren die Produkte einer hochgerüsteten Warenwelt. Auch in unserer Gegenwart zerbröselt die Welt so wie wir sie kennen: Tiefgreifende Einschnitte folgen einer unvorstellbaren kollektiven Anstrengung, die beinahe alle Bereiche des öffentlichen Lebens in Bewegung versetzt oder zum Erliegen bringt. Das Resultat dieser Maßnahmen liegt allerdings in der Zukunft, außerhalb der Kameraeinstellung. Hingegen kommt im Vordergrund des Bildes, für alle gut sichtbar, ein riesiger Körper schwerverletzt zu liegen. Das Rückgrat der globalen Wirtschaft (ihre jähe Querschnittläsion hätten im Wachzustand selbst ihre erbittertsten Kritiker vermieden) scheint durch die Funkstille neuronaler Impulsgeber wie Dienstleistungen, physische Umschlagplätze und ausschwärmende Konsument*innen lahmgelegt.

Rewind

Die Realität könnte kaum unterschiedlicher aussehen, spulen wir den Film nur um ein paar Sequenzen zurück. An diesem Punkt der Timeline stehen wir gemeinsam mit vielen anderen auf einem öffentlichen Platz. Der Ort ist voll von Menschen unterschiedlichen Alters. Man erkennt viele Gesichter, es wird geplaudert und gewitzelt, der Zusammenkunft haftet schon eine gewisse Routine an. Für viele ist es der letzte Tag der Arbeitswoche. Dieses Bild der zahlreichen Fridays-for-Future Manifestationen in Großstädten ist in der westlichen Welt omnipräsent geworden. Der Vergleich der beiden Filmszenen macht jedoch noch etwas deutlich: Das heutige Social Distancing folgt auf das gestrige Sich-Aneinander-Vorbeischieben dichtgedrängter Körper. Mit dem engen Beisammenstehen im Zeichen der Umwelt droht man sich jetzt einer Gewohnheit von gestern zu entledigen. Zu einer ebensolchen waren die Reaktionen auf die Umweltproteste erstarrt – erkennbar an der eisigen Lethargie derjenigen, die sich, von Greta Thunbergs Appellen unter Druck gesetzt, nur widerwillig zu publikumswirksamen Minimalkompromissen durchgerungen hatten. Die politische Sphäre ließ sich Zugeständnisse abringen, die häufig bei Lippenbekenntnissen blieben, während die Unternehmenswelt dem neuen Bewusstsein euphorisch mit Greenwashing begegnete – ein Feature aus der Toolbox ihrer Corporate-Social-Responsibility-Abteilungen. Mit anderen Worten: Die selbstverschuldete oder gar beabsichtigte Handlungsunfähigkeit der Politik bestimmte das Filmskript.

Slow Motion

Aus dieser Sicht wird deutlich, mit welcher Entschlossenheit die Figuren der politischen Bühne das Ruder nun an sich reißen. Nicht die wirtschaftliche Elite wird diesmal über das Fortkommen der Mehrheit gestellt, sondern das Überleben einer alters- und gesundheitsbedingt schwächeren Minderheit über die Freiheit der mit drastischen Einschränkungen belegten Gesamtheit. Dabei entspringt das, was wir heute an Restriktionen erleben, weniger der konzertierten Aktion der internationalen Staatengemeinschaft als vielmehr einem Schutzinstinkt oder Reflex. Die Entschiedenheit der Abwehrreaktion mag dem Zeitlichen geschuldet sein, das diese Krise auszeichnet. Kein Tag, kaum eine Stunde vergeht, in der nicht ein Liveticker aktuelle Fallzahlen der sich rasant ausbreitenden Pandemie zu berichten hätte. Ebenso sehr entspricht sie unserer psychoimmunologischen Verfassung. Denn das Tätersubjekt Virus haben wir schon lange vor seinem Ausbruch verinnerlicht. Wird uns nicht schon im Jugendalter eingeimpft, dass es denen, die es befällt, Krankheit und Tod bringt?

Noch in der vorigen Filmsequenz schien es, dass der Kampf um die Natur an die Stelle all jener Konflikte treten könnte, die bis heute zugunsten einer umfassenden Demokratisierung der Gesellschaft ausgefochten wurden. Der Umweltschutz machte sich als Vehikel für alle anderen notwendigen Veränderungen bemerkbar. Doch mit Blick auf die heute zutage tretende Handlungsentschlossenheit ließe sich das Wort „Natur“ getrost mit „Gesundheit“ ersetzen. Wie selbstverständlich diese Entschlossenheit im Licht des Ausnahmezustands funkelt, verdeutlicht den Zynismus der jüngeren Vergangenheit. Denn welcher Vorwand kann geltend gemacht werden, dass für den Kampf gegen den Klimawandel bislang so wenig unternommen wurde? Eine drastische Verhaltensänderung unterstützt von einer beispiellosen Opferbereitschaft: Was die Umweltprotestbewegung in ihrer Hochkonjunktur nicht zu bewegen vermöchte, schafft die Bedrohung durch eine potentiell tödliche Lungenkrankheit von gestern auf heute.

Auch wenn eine ähnlich unkoordinierte und jähe Zäsur, wie wir sie heute erleben, nicht als Antwort auf die weiterhin ungelösten Umwelt- und Sozialfragen gelten kann – wir wollen uns in Erinnerung rufen, worum Greta bei jeder Gelegenheit so inständig bat: Endlich etwas zur Abwendung der Klimakatastrophe zu unternehmen. Mit dem heute Dargebotenen, der nie dagewesenen Zügelung, den Beschränkungen, Solidaritätsbekundungen, Incentives, Eingriffen und Ausgriffen auf das Andere wäre der Nachweis erbracht, dass das, was gerade vorhin nicht mehr vorstellbar schien, mit einem Schlag gegeben ist: Die Möglichkeit zu handeln.

 

Fast-forward

Kommen wir zur Schlusssequenz unseres Films, die noch nicht abgedreht wurde. Sie spielt in einem weitläufigen Salon. In wiedergewonnener Nähe drängen sich darin die Protagonist*innen der Weltbühne. Sie haben sich zusammengefunden, um die Charta für Morgen zu verhandeln. Neben den einen, die weiterhin den Liberalismus hochhalten und den anderen, die durch die Krise ihr autoritäres Machtprinzip legitimiert sehen, betreten auch die CEOs der globalen Internetgiganten den Raum. Ihnen bietet sich die einmalige Chance, sich in offener Arena der philanthropischen Rolle zu besinnen, die sie bislang nur vor geladenen Charity-Dinnern vorgetragen haben. Werden die Vertreter*innen der westlichen Demokratien kontrollstaatlichen Versuchungen widerstehen – nun da das globale Wirtschaftssystem darnieder liegt, welches zu gerne ökologisch gewesen wäre und nur bei Gelegenheit solidarisch? Das Jahr 2020 wird Diskussionen über Overtourism, Re-Regionalisierung von Wirtschaftszweigen, sinnvolle Arbeitszeiten, Milliardär*innen-Beiträge, Schließung von Steueroasen, Corona-Bonds, bedingungsloses Grundeinkommen, den Wiederaufbau öffentlicher Gesundheitssysteme, sowie Start-up-Kapital für 25-Jährige mit sich gebracht haben. Im krisenbedingten Vorliebnehmen mit dem Anderen, dem Aufgreifen unorthodoxer Praktiken und der Zuhilfenahme bislang unerhörter Gestaltungsmittel werden angesichts der sich anbahnenden Prekarisierung neuer Mehrheiten Modelle erwogen worden sein, die sich als zukunftsweisend herausstellen könnten.

Das Ende ist offen, die Schritte von heute und morgen bestimmen nun das Drehbuch.

Mehr Texte von Philippe Batka

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